Ich bin Niederrhein (26) von Michael Elsing
Zugegeben: die eigentlichen Hochburgen des Karnevals sind Köln, Düsseldorf und Mainz, vielleicht noch Rio de Janeiro. Das bedeutet aber nicht, dass die fünfte Jahreszeit an uns Niederrheinern unbemerkt vorüberzieht. Ganz im Gegenteil: der Niederrhein ist das heimliche Epi-Zentrum der jecken Zeit. Und für uns gilt dabei der gleiche Slogan wie für jeden anderen Karnevalisten auf der Welt. Alles, was ansonsten undenkbar wäre, ist zwischen Altweiber-Donnerstag und Rosenmontag erlaubt. Das Motto lautet: „Egal, iss doch Karneval!”
Beispiele gefällig? Bitte schön: ich darf sämtliche Menschen, die nachweislich nicht mit mir verheiratet oder liiert sind, küssen, drücken und manchmal sogar noch mehr. Begründung hierfür: „Egal, iss doch Karneval!” Außerdem darf ich mich bis zur Unkenntlichkeit verkleiden, wobei es völlig unerheblich ist, ob mir das Kostüm nun steht, es zu mir passt oder ich einfach nur bescheuert aussehe. Auch hier gilt: „Egal, iss doch Karneval!”
Eine äußerst günstige Gelegenheit bietet zudem das Angebot, ungestraft ganz tief in die Beleidigungskiste zu greifen, ohne dass dies ein gerichtliches Nachspiel hätte. Kein Mensch käme jedenfalls auf die Idee, seinen Gegenüber zu verklagen, nur weil dieser ihn einen „Narren” genannt hat. Stattdessen denkt er sich: „Egal, iss doch Karneval!” Sie merken sicher schon, dass die üblichen Verhaltens- und Denkweisen im Karneval schlichtweg außer Kraft gesetzt werden.
Erlaubt sind beispielsweise auch bettelnde Kinder an der Haustür. Ja, sie werden sogar mit Freuden empfangen und für ihre Bettelei mit Süßigkeiten belohnt. Darüber hinaus kräht kein Hahn danach, wenn erwachsene Menschen von lustig bemalten oder gestalteten Wagen, die von Treckern gezogen werden, Lebensmittel einfach auf die Straße werfen. Und die auf dem Boden verbliebenen Erwachsenen, die im normalen Leben ihren Kindern untersagen würden, etwas von der Straße aufzuheben, animieren ihren Nachwuchs nun sogar dazu, alles an sich zu nehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Sie kennen die Begründung mittlerweile: „Egal, iss doch Karneval!”
Eine erstaunliche Leidensfähigkeit demonstriert der Niederrheiner auch im Bereich der musikalischen Unterhaltung. Da stehen wir parat, „wenn dat Trömmelche ruft”, wir ziehen mit der Karawane weiter, weil der Sultan Durst hat und wir glauben fest daran, dass alles ein Ende hat, nur die Wurst hat zwei. Und wir träumen davon, einmal Prinz zu sein. Das macht nicht wirklich Sinn, dafür aber Spaß. Wir beklatschen Ballett-Gruppen, die sich nicht Ballett, sondern Garde nennen. Wir bejubeln alles was nicht schnell genug wegrennen kann. Und am Aschermittwoch tun wir so, als wäre nichts gewesen.
RP vom 11. Februar 2010